Deutsch
English
Türkçe

  Unabhängige Kunsträume im Dialog        
  Ausstellung – Veranstaltungen – Vermittlung
 

 

   
           
 

Every Artist an Organized Artist*

Deniz Erbaş, Istanbul 2009

Projekte, Kunsträume und Produktionen, die in den letzten Jahren von Künstlern und Kuratoren in Istanbul realisiert wurden, werden zumeist mit Begriffen wie Initiative, Organisierung und unabhängig beschrieben. Dieses immer mehr an Relevanz gewinnende Phänomen lässt sich weniger als ein populärer Trend beschreiben, als vielmehr ein funktionaler Reflex auf die vorhandenen Verhältnisse.

Die Türkei - einst Teil der Dritten Welt - inzwischen aber ein Schwellenland, das seit 40 Jahren auf die EU-Mitgliedschaft wartet, besitzt neben seinen charakteristischen Merkmalen auch die typischen Eigenschaften eines Landes an der Peripherie. Zu den wichtigsten Merkmalen gehören die „nationalen Allegorien“, die Frederic Jameson wie folgt beschreibt: „Die Geschichte eines individuellen Schicksals ist stets die Allegorie der öffentlichen Kultur und Gesellschaft in der Dritten Welt in ihrem Belagerungszustand.“** Diese Definition liefert eine sehr präzise Perspektive, aus der heute die Kunstproduktion im Allgemeinen und die Künstlerinitiativen im Besonderen erfasst werden können.

Vorweg muss man aber festhalten, dass etablierte Institutionen, Personen und Ausstellungen gegenwärtig nicht genug Möglichkeiten anbieten, um das Bedürfnis nach Kunstproduktion und -präsentation zu befriedigen. Das liegt daran, dass die Akteure nicht über einen institutionalisierten Rahmen hinaus agieren. Inhaltliche Sensibilitäten und die konsequente Bewahrung der institutionellen Identität oder Ausstellungen für geladene Gäste mit Security-Einlass bis hin zur „Unberührbarkeit“ der Wände bestimmen das Feld. So beschränkt sich die Kunst mehr auf ein „privat“ zu bezeichnendes Feld, als auf einen öffentlichen Raum. Aus dieser Beengung entstehen immer mehr Initiativen, unabhängige Kunsträume und Künstlerprojekte.

Während etablierte Kunsträume dem Anspruch des öffentlichen Raums nach wie vor nur wenig gerecht werden, war die Existenz der Kunst im öffentlichen Raum von Anfang an beschränkt und problematisch. Das traditionelle und widerständige Kunstverständnis reduzierte die Kunst im öffentlichen Raum nur auf Denkmäler/Statuen und konnte das öffentliche Bild mit nichts anderem füllen als mit riesigen Werbeplakaten und Billboards, Parkhäuser, von Plastikblumen umzäunte Tische in den Cafés, Bars und Restaurants, Straßenverkaufsständen, überdimensionale Fahnen, Poster und Transparente. So reduzierte sich die Sichtbarkeit der Kunst in der Stadt phasenweise auf Gelegenheitsaktionen wie Straßenausstellungen. So gesehen kann man nicht von einer geringen Sichtbarkeit der Kunst im öffentlichen Raum reden – sie ist praktisch unsichtbar. Folglich besteht das Kunstpublikum aus den natürlichen Besuchern der eingangs beschriebenen privaten Räume.

Die fehlende Existenz öffentlicher Räume für eine unmittelbare Begegnung mit den Rezipienten konnte nur durch Initiativen von Künstlern und Kuratoren überwunden werden. Denn die Erwartung, die Privatinitiativen würden sich für die Schaffung öffentlicher Räume einsetzen, erfüllte sich nicht. Dagegen erweitern unterschiedliche alternative Projekte zum einen die Grenzen von privaten Kunsträumen im Stadtzentrum und schaffen zum anderen öffentliche Kunsträume. Zu diesen Projekten zählen beispielsweise „Pist“, das sich an der Peripherie der Kunstszene, im Stadtviertel Pangalti in einer Wohngegend niederließ; die Initiative „5533“, die mitten im lebendigen Geschäftszentrum der Textilhändler in Unkapani mit 20.000 Mitarbeitern den Geschäftsladen mit der Nummer 5533 mit einem Archiv, einer Bibliothek und einem Ausstellungsraum in einen Kunstraum verwandelte; die Künstlergruppe „Hafriyat“, die in Karaköy, inmitten einer Gegend mit Geschäften für Autoersatzteile, Dekoration und Werkstätten sowie Bordellen ihren Laden eröffnete. Hinzu kommt das „Apartman Projesi“ in Tünel, das alternativ zu Galerien, Räumlichkeiten für Künstlerprojekte zur Verfügung stellt. Das Projekt „Bas“ in Sishane, das sich auf die Produktion von Künstlerbüchern spezialisiert hat, dringt über Drucksachen in den öffentlichen Raum. „Pist“ erstellt seit zwei Jahren die Kunstlandkarte „List“, mit der das Projekt einen aktuellen Kunstkalender kostenlos zur Verfügung stellt.

Die oben erwähnten Kunsträume wurden von Künstlerinitiativen unterschiedlicher Zusammensetzung gegründet. „Hafriyat“ ist eine Gruppe, die seit 1996 eigene Ausstellungen organisiert; Die Künstler und Kuratoren von „5533“ definierten sich bis zur Eröffnung ihres Kunstraumes nicht als Gruppe, doch ihre Arbeiten sind organisch miteinander verbunden. Die Initiatorin von Apartman Projesi, Selda Asal, realisierte zahlreiche Kollektivprojekte wie „2+1“.

Die fehlende Kunst im öffentlichen Raum führt zu Praktiken, sich im öffentlichen Kulturraum zu behaupten. Der öffentliche Raum wird von Repression, Kontrolle und Diskriminierung beherrscht, folglich auch das gesamtgesellschaftliche Leben und die Individuen. Diese repressive Struktur durchzieht die Gesellschaft und macht auch bei Kunst keine Ausnahme. Dies aber bedeutet das Gegenteil von Freiheit, die für Künstler unverzichtbar ist. Weil sie fehlt, politisieren sich die Künstler bei der Hinterfragung der Repressionsmechanismen und ihrer Erscheinungsformen zwangsläufig und können dadurch in herrschende Denkstrukturen des öffentlichen Lebens eingreifen:

Dazu zählen die Ausstellung „Makul“, die zeitgleich zum Verbotsverfahren gegen den Verein Lambda in Istanbul stattfand und die Rechte von Homosexuellen sowie Genderfragen thematisierte; die feministische Aktionsausstellung „Strafmilderung wegen Provokation“, deren Titel dem Paragraphen 5237 des türkischen Strafgesetzbuches entnommen wurde, in dem Sexualdelikte unter der Überschrift "Schuldausschließungs- oder milderungsgrund” neu geregelt wurden; die von Hafriyat Karaköy organisierte Plakatausstellung „Gottesfurcht“; das Projekt „Münferit“ - das überwiegend aus Künstlern bestehende „19. Januar-Kollektiv“ wurde nach der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink gegründet -, in dessen Rahmen das Thema „Morde von unbekannten Tätern“ am ersten Jahrestag des Mordes an Dink in einer Informations- und Dokumentationssammlung sowie einer Rauminstallation realisiert wurde; die Ausstellung „Sulukule“ von der Sulukule-Plattform, die sich mit den Betroffenen im gleichnamigen Stadtviertel solidarisiert, das im Zuge von Stadtumbauprojekten zwangsevakuiert wird…

Zusätzlich zu diesen Aktionen und Ausstellungen wird über alternative Felder in die aktuellen Debatten eingegriffen: Das „19. Januar-Kollektiv“ veröffentlicht in Zeitungen und Zeitschriften Bilder zu aktuellen gesellschaftlichen Themen; „atılkunst“ verbreitet wöchentlich per Email virtuelle Sticker als Antwort auf relevante Fragen; „IstanbulMap“, ein Stadtplan über die neoliberale Neuaufteilung Istanbuls, der nach einer dreimonatigen Kollektivarbeit der Künstlerin Anna Sala (Barcelona) mit Architekten, Stadtplanern, Soziologen und Künstlerinitiativen aus Istanbul entwickelt und in einer Auflage von 15.000 Stück kostenlos verbreitet wurde, gilt nach wie vor als Referenz für sämtliche Arbeiten im Bereich Stadtumbau.

Diese Ausstellungen, Veranstaltungen und Organisationen aus der Kunstszene haben einen gemeinsamen Nenner. Auf ihren Arbeitsfeldern kooperieren sie themenbezogen mit Gruppen und Organisationen aus anderen Bereichen und verschaffen ihnen Zugang zur Kunstszene. Dadurch lernen sie Organisationsmodelle aus anderen gesellschaftlichen Bereichen kennen und erweitern ihre interdisziplinäre Arbeitspraktiken. Beispielhaft dafür stehen Kooperationen mit Organisationen wie Amargi, Filmmor, Lambda Istanbul, Sulukule-Plattform, Imece und Urbane Bewegung der Gesellschaft.

Das besondere Merkmal dieser Initiativen und Organisationen liegt darin, dass Künstler gemeinsam eine Sensibilität für die gesellschaftliche und politische Tagesordnung der Türkei entwickeln. Sie erweitern ihr Wirkungsfeld im Austausch mit Personen und Organisationen aus anderen Disziplinen und produzieren dabei weniger kunstimmanente oder ästhetische Ansätze als vielmehr aktionsgerichtete Organisationsformen. Dadurch begann ein Prozess, in dem die Kunst zum öffentlichen Raum und zur gesellschaftlichen Realität eine direkte Verbindung aufnahm. Sie konnte ihren Einfluss auf die Lösung der Probleme im Mikro- bzw. Makrobereich erhöhen. Zweifellos haben die Strukturen, die auf den praktischen Erfahrungen der letzten zehn Jahre auf der Grundlage von „Zusammenarbeit, Koproduktion und Einsatz der Kollektiv-Vernunft“ basieren, zur Realisierung der oben erwähnten Künstlerinitiativen, Kunsträumen, Ausstellungen und Aktionen beitrugen.

Die Künstler kommen immer öfter zusammen und ergreifen Initiative, um aus gegenseitigen Produktionsprozessen zu lernen, durch die Bündelung ihrer Kräfte Freiräume in der Kunstszene zu schaffen, ohne auf die Institutionen des Status Quo angewiesen zu sein, ihre Verzweiflung gegenüber gesellschaftlicher Repression zu teilen und die Kollektiv-Vernunft einzusetzen.

Die nächste Etappe dieser Arbeitsweise sollte darauf zielen, durch breitere Organisationsformen, die beruflichen Rechte von Künstlern zu stärken und die unabhängige und freie Entwicklung der Kunst auf die Tagesordnung zu setzen. Die bereits existierenden Organisationen können die Bedürfnisse der Kunstszene kaum definieren und zur Sprache bringen. Genau an diesem Punkt gewinnt der Aufruf „Eine Schrift zur Organisierung“ von Burak Delier und Kamil Senol, den sie auf ihrem Blog „Was tun?“ veröffentlichten, eine immense Bedeutung: „Wir interessieren uns nicht nur für die Rettung der ‚Kunst’, sondern auch für die Emanzipation. Kunst kann nur einen Sinn haben, wenn sie emanzipatorische Entwicklungen unterstützt. Die relative Emanzipation der Kunst ist sinnlos und irrelevant, wenn sie nicht mit der weltweiten Emanzipation korrespondiert.“***

Deniz Erbaş, Istanbul 2009

 

 

*“Manifesto issued by the Syndicate of Technical Workers, Painters, and Sculptors, Mexico City 1922”, “Theories of Modern Art”, University of California Press, USA, 1984, s.461-462
** Frederic Jameson, “Third-World Literature in the Era of Multinational Capitalism”, Social Text, No:15, 1986.
*** http://ne-yapmali.blogspot.com, 2008

 

 

 

 

 

   
   
  mit Unterstützung von   Medienpartner